von Sophie Passarge
Der
Heiler
Ein
Heiler sitzt in seinem Haus auf dem Lehmboden. Auf seinem Schoß hat
er eine Schieferplatte platziert. Mit der anderen Hand umfasst er
einen spitz zulaufenden Hirsestängel. Er taucht den Stängel in ein
Tintenglas, das eine Paste aus Ruß und Gummiarabicum enthält und
beschriftet die Schieferplatte mit Versen aus dem Koran. Anschließend
wäscht er die Tinte mit Wasser ab und sammelt sie in einer großen
Tonschüssel.
So
erfolgt das traditionelle Ritual zur Herstellung von islamischer
Medizin in Darfur, im Sudan (El-Tom 415). Die Heiler fertigen diese
Mixtur aus Tinte und Wasser mit heilender oder schützender Wirkung
an und geben sie anschließend ihren hilfesuchenden Kunden zum
Trinken. Die Heiler werden von den Völkern im Sudan als faki
(El-Tom 415), in Tansania als waganga
(Swantz 7) bezeichnet.
Die Aufgaben der faki
und waganga
gehen über die des einfachen Heilers hinaus. Sie dienen den
Einheimischen auch als religiöse Anführer und Lehrer und sie
stellen Schutzamulette her.
In
verschiedenen Völkergruppen Westafrikas wird auf die heilende
Wirkung von Koranversen vertraut. Die religiöse Praxis des Trinkens
von Koranversen ist bei den Berti im Sudan als mihāi
(zu deutsch: Löschung)
bekannt (El-Tom 414), bei den Zaramo in Tansania als kombe
(Wilkens, ''Drinking the Quran'' 245) und wird auch in Kairo, in
Ägypten verbreitet (Kriss 40). Die Berti und Zaramo sind zwei
afrikanische Völker. Den Berti gehören ungefähr 60 000 (El-Tom
414) und den Zaramo schätzungsweise 200 000 (Pelrine) Menschen an.
Der Glaube beider Völker ist eine Kombination aus orthodoxer
islamischer Religion und vorislamischen religiösen Traditionen, bei
denen Rituale im Vordergrund stehen.
Bei den Berti machen Heiler 1 bis 2
% der Bevölkerung aus. Wer Kontakt zu einem Heiler aufnehmen möchte,
muss mit anderen Patienten in einem Wartezimmer Platz nehmen (Swantz
8). Ist der Hilfesuchende an der Reihe, nennt er dem Heiler entweder
die Sure, die auf die Holzplatte graviert werden soll oder er
beschreibt seine Situation und der Heiler wählt dann eine passende
Koranstelle aus (El-Tom 418). Seine Grundausbildung erhält der
religiöse Gelehrte zwar in der Koranschule, das Wissen, welche
Koranstellen verwendet werden können, wird jedoch von Generation zu
Generation weitergegeben. Die Heiler erwerben ihr Wissen auch aus
Büchern (El-Tom 416). Besonders die Werke von Ibn Qaiyim
al-Dschauzīya und Mohammad al-Dahabi über islamische Medizin aus
dem 14. Jahrhundert sind bedeutend, diese Werke beziehen sich auf
Propheten aus dem 9. Jahrhundert (Wilkens, ''Drinking the Quran''
247). Oft geben Heiler ihren Patienten Empfehlungen zur Art der
Einnahme von Löschungen, die an die Schulmedizin erinnern. Der
Patient kann die Mischung über den Tag verteilt trinken oder nur zu
einer bestimmten Uhrzeit einnehmen (El-Tom 417).
Koranverse
Woher stammt der Glaube an die heilende Wirkung des Korans? Der Glaube an die heilende Wirkung von Worten ist typisch islamisch und stammt ursprünglich nicht von den westafrikanischen Völkern. Mehrere Suren erwähnen Gottes Macht, zu heilen.
Der
mich erschaffen hat und mich (nun) rechtleitet,
und
Der mir zu essen und zu trinken gibt
und
Der, wenn ich krank bin, mich heilt,
und
Der mich sterben läßt und hierauf wieder lebendig macht,
(Sure
26: 78-81)
Und
Wir offenbaren vom Qurʾān, was für die Gläubigen Heilung und
Barmherzigkeit ist...
(Sure
17: 82)
Das
Bertivolk glaubt, dass Gott selbst Dinge schafft, indem er sie
ausspricht. So wird auch angenommen, dass die Bitten, die an Gott in
den Ritualen gestellt werden, sich erfüllen. Zwei Sätze sind
Bestandteil jeder Löschung: „Im Namen Gottes, des Allerbarmers,
des Barmherzigen.“ und „Möge Gott unsere Absicht gutheißen.“
(El-Tom 417).
Die
vom Heiler ausgesuchten Suren können zusätzlich zur Heilung von
Kranken bei einer Schwangerschaft unterstützen, Glück für
Geschäftsgründungen bringen oder helfen, einen Streit beizulegen
und vor bösen Kräften schützen“ (El-Tom 424).
Der
wichtigste schutzbringende Vers ist der Thronvers, da dieser häufig
bei Löschungen und als Inhalt von Amuletten verwendet wird. Er ist
unter fast allen Erwachsenen des Berti Stammes bekannt (El-Tom 418).
Allah
– es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Lebendigen und
Beständigen.
Ihn überkommt weder Schlummer noch Schlaf.
Ihm
gehört (alles), was in den Himmeln und was auf der Erde ist. Wer
ist es denn, der bei Ihm Fürsprache einlegen könnte –
außer
mit Seiner Erlaubnis? Er weiß, was vor ihnen und was hinter
ihnen liegt, sie aber umfassen nichts von Seinem Wissen –
außer,
was Er will. Sein Thronschemel umfaßt die Himmel und die Erde,
und ihre Behütung beschwert Ihn nicht. Er ist der Erhabene
und
Allgewaltige.
(Sure 2: 255)
Verschiedene Formen von religiösen Praktiken
Löschungen zählen zu den beliebtesten medizinischen Praktiken in der islamischen Welt Westafrikas. Der Vorgang des Rituals oder das Medium, auf das die Koranverse geschrieben werden, variiert jedoch von Kultur zu Kultur und ändert sich auch im Laufe der Zeit. Früher wurden die Verse im Sudan oft auf die Innenseite von Schüsseln geschrieben. In diese wurde dann Wasser gegossen. Anschließend schwenkte der Heiler die Schüssel solange, bis die Schrift komplett abgewaschen und ins Wasser aufgenommen war. Danach wurde die Mischung getrunken (Kriss 61).
In
Damaskus verwendete der Heiler kleine venezianische Goldmünzen, die
als mašḫaș
bezeichnet werden. Diese Münzen dienen als Amulette, da an ihnen
eine Öse befestigt ist, um sie um den Hals zu tragen. Sie werden in
eine Schüssel, die mit Wasser gefüllt ist, gelegt. Dieses Wasser
kann ebenfalls getrunken werden. Amulette sind die beliebtesten
Heilungsmittel, da sie kostbar sind und in Familien weitervererbt
werden (Kriss 46).
Eine
weitere Art den Koran zu trinken ist, ein Gefäß mit Wasser zu
füllen und die Verse anschließend laut über dem Gefäß
auszusprechen. Dann wird in das Wasser gespuckt und der Patient
trinkt es (Wilkens, ''Drinking the Quran'' 247).
Kritik an religiöser Medizin
In der westlichen Medizin wird die Kombination aus Religion und Heilung mit Skepsis betrachtet (Wilkens, Katharina, ''Religious Healing and Evil Spirits'' 4). Einige gehen sogar so weit und nennen die Heiler „witch-doctor“ (zu Deutsch: Hexen-Doktor) (Swantz 7). In wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema werden keine Ergebnisse der Therapien festgehalten, deshalb lässt sich der medizinische Wert nicht untersuchen. Es kann nur von persönlichen Erfahrungen der Patienten berichtet werden (Swantz 7).
Kritik an religiöser Medizin
In der westlichen Medizin wird die Kombination aus Religion und Heilung mit Skepsis betrachtet (Wilkens, Katharina, ''Religious Healing and Evil Spirits'' 4). Einige gehen sogar so weit und nennen die Heiler „witch-doctor“ (zu Deutsch: Hexen-Doktor) (Swantz 7). In wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema werden keine Ergebnisse der Therapien festgehalten, deshalb lässt sich der medizinische Wert nicht untersuchen. Es kann nur von persönlichen Erfahrungen der Patienten berichtet werden (Swantz 7).
Doch
nicht nur in der westlichen Welt werden die Praktiken auf diese Weise
angesehen. Orthodoxe Muslime, die ihr Wissen über Koranverse aus
der Literatur der islamischen Theologie erwarben, interpretieren
Koranverse anders als die Berti. Die Interpretationen der Berti sind
geprägt von einem Dialekt, der vom Arabischen abweicht. Viele
Erwachsene Berti sind außerdem Analphabeten und haben nie Exegese in
Koranschulen betrieben. Es bestehen zudem Vorwürfe, dass einige
Heiler Verse beabsichtigt manipulieren, um sie den Situationen ihrer
Kunden anzupassen (El-Tom 428-429). Nichtsdestotrotz ist die Praktik
des Trinkens von Koranversen wichtig für westafrikanische Völker,
da sie ihrer Überlieferung nach auf den Propheten Mohammed zurückgeht. Für sie ist außerdem
bedeutend, dass durch Schutzverse mögliche böse Kräfte, die sie
für Ursachen von Leid halten, abgehalten werden (El-Tom 418). Das
macht Praktiken auch neben dem Gebrauch von anderen Mitteln wie
Kräuter und Pflanzen zum festen Bestandteil lokaler Medizin.
"Faki, the Koran healer"; Filmcollage auf youtube.com
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=QtFcdvZOCjQ
Verwendete Literatur
El-Tom,
Abdullahi Osman. ''Drinking the Koran: The meaning of Koranic Verses
in Berti Erasure'' Africa: Journal of the International African
Institute. 55.4
(1985): 414-431. Print.
Kriss, Rudolf und Hubert Kriss-Heinrich: Volksglaube im Bereich des Islam, Band II, Amulette, Zauberformeln und Beschwörungen. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1962. Print.
Pelrine, Diane. ''Art and Life Among the Zaramo of Tanzania.'' Art and Life in Africa. Web. 30.07.2016. <https://africa.uima.uiowa.edu/peoples/show/Zaramo>.
Swantz, Lloyd. The Medicine Man among the Zaramo of Dor es Salaam. Esbo: Nordic Africa Institute, 1990. Print.
Wilkens, Katharina. ''Drinking the Quran, Swallowing the Madonna. Embodied Aesthetics of Popular Healing Practices.'' Alternative Voices: A Plurality Approach for Religious Studies. Essays in Honor of Ulrich Berner. Ed. Afe Adogame, Magnus Echtler und Oliver Freiberger. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. 243–247. Print.
Wilkens, Katharina. Holy Water and Evil Spirits. Religious Healing in East Africa. Berlin: LIT Verlag, 2011. Print.
Kriss, Rudolf und Hubert Kriss-Heinrich: Volksglaube im Bereich des Islam, Band II, Amulette, Zauberformeln und Beschwörungen. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1962. Print.
Pelrine, Diane. ''Art and Life Among the Zaramo of Tanzania.'' Art and Life in Africa. Web. 30.07.2016. <https://africa.uima.uiowa.edu/peoples/show/Zaramo>.
Swantz, Lloyd. The Medicine Man among the Zaramo of Dor es Salaam. Esbo: Nordic Africa Institute, 1990. Print.
Wilkens, Katharina. ''Drinking the Quran, Swallowing the Madonna. Embodied Aesthetics of Popular Healing Practices.'' Alternative Voices: A Plurality Approach for Religious Studies. Essays in Honor of Ulrich Berner. Ed. Afe Adogame, Magnus Echtler und Oliver Freiberger. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. 243–247. Print.
Wilkens, Katharina. Holy Water and Evil Spirits. Religious Healing in East Africa. Berlin: LIT Verlag, 2011. Print.
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