Montag, 15. Mai 2017

„Den Koran trinken“ - Die heilende Wirkung von Koranversen

von Sophie Passarge

Der Heiler

Ein Heiler sitzt in seinem Haus auf dem Lehmboden. Auf seinem Schoß hat er eine Schieferplatte platziert. Mit der anderen Hand umfasst er einen spitz zulaufenden Hirsestängel. Er taucht den Stängel in ein Tintenglas, das eine Paste aus Ruß und Gummiarabicum enthält und beschriftet die Schieferplatte mit Versen aus dem Koran. Anschließend wäscht er die Tinte mit Wasser ab und sammelt sie in einer großen Tonschüssel.
So erfolgt das traditionelle Ritual zur Herstellung von islamischer Medizin in Darfur, im Sudan (El-Tom 415). Die Heiler fertigen diese Mixtur aus Tinte und Wasser mit heilender oder schützender Wirkung an und geben sie anschließend ihren hilfesuchenden Kunden zum Trinken. Die Heiler werden von den Völkern im Sudan als faki (El-Tom 415), in Tansania als waganga (Swantz 7) bezeichnet. Die Aufgaben der faki und waganga gehen über die des einfachen Heilers hinaus. Sie dienen den Einheimischen auch als religiöse Anführer und Lehrer und sie stellen Schutzamulette her.
In verschiedenen Völkergruppen Westafrikas wird auf die heilende Wirkung von Koranversen vertraut. Die religiöse Praxis des Trinkens von Koranversen ist bei den Berti im Sudan als mihāi (zu deutsch: Löschung) bekannt (El-Tom 414), bei den Zaramo in Tansania als kombe (Wilkens, ''Drinking the Quran'' 245) und wird auch in Kairo, in Ägypten verbreitet (Kriss 40). Die Berti und Zaramo sind zwei afrikanische Völker. Den Berti gehören ungefähr 60 000 (El-Tom 414) und den Zaramo schätzungsweise 200 000 (Pelrine) Menschen an. Der Glaube beider Völker ist eine Kombination aus orthodoxer islamischer Religion und vorislamischen religiösen Traditionen, bei denen Rituale im Vordergrund stehen.
Bei den Berti machen Heiler 1 bis 2 % der Bevölkerung aus. Wer Kontakt zu einem Heiler aufnehmen möchte, muss mit anderen Patienten in einem Wartezimmer Platz nehmen (Swantz 8). Ist der Hilfesuchende an der Reihe, nennt er dem Heiler entweder die Sure, die auf die Holzplatte graviert werden soll oder er beschreibt seine Situation und der Heiler wählt dann eine passende Koranstelle aus (El-Tom 418). Seine Grundausbildung erhält der religiöse Gelehrte zwar in der Koranschule, das Wissen, welche Koranstellen verwendet werden können, wird jedoch von Generation zu Generation weitergegeben. Die Heiler erwerben ihr Wissen auch aus Büchern (El-Tom 416). Besonders die Werke von Ibn Qaiyim al-Dschauzīya und Mohammad al-Dahabi über islamische Medizin aus dem 14. Jahrhundert sind bedeutend, diese Werke beziehen sich auf Propheten aus dem 9. Jahrhundert (Wilkens, ''Drinking the Quran'' 247). Oft geben Heiler ihren Patienten Empfehlungen zur Art der Einnahme von Löschungen, die an die Schulmedizin erinnern. Der Patient kann die Mischung über den Tag verteilt trinken oder nur zu einer bestimmten Uhrzeit einnehmen (El-Tom 417).

Koranverse

Woher stammt der Glaube an die heilende Wirkung des Korans? Der Glaube an die heilende Wirkung von Worten ist typisch islamisch und stammt ursprünglich nicht von den westafrikanischen Völkern. Mehrere Suren erwähnen Gottes Macht, zu heilen.

Der mich erschaffen hat und mich (nun) rechtleitet,
und Der mir zu essen und zu trinken gibt
und Der, wenn ich krank bin, mich heilt,
und Der mich sterben läßt und hierauf wieder lebendig macht,
(Sure 26: 78-81)

Und Wir offenbaren vom Qurʾān, was für die Gläubigen Heilung und Barmherzigkeit ist...
(Sure 17: 82)

Das Bertivolk glaubt, dass Gott selbst Dinge schafft, indem er sie ausspricht. So wird auch angenommen, dass die Bitten, die an Gott in den Ritualen gestellt werden, sich erfüllen. Zwei Sätze sind Bestandteil jeder Löschung: „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen.“ und „Möge Gott unsere Absicht gutheißen.“ (El-Tom 417).
Die vom Heiler ausgesuchten Suren können zusätzlich zur Heilung von Kranken bei einer Schwangerschaft unterstützen, Glück für Geschäftsgründungen bringen oder helfen, einen Streit beizulegen und vor bösen Kräften schützen“ (El-Tom 424).
Der wichtigste schutzbringende Vers ist der Thronvers, da dieser häufig bei Löschungen und als Inhalt von Amuletten verwendet wird. Er ist unter fast allen Erwachsenen des Berti Stammes bekannt (El-Tom 418).

Allah – es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Lebendigen und
Beständigen. Ihn überkommt weder Schlummer noch Schlaf.
Ihm gehört (alles), was in den Himmeln und was auf der Erde ist. Wer ist es denn, der bei Ihm Fürsprache einlegen könnte –
außer mit Seiner Erlaubnis? Er weiß, was vor ihnen und was hinter ihnen liegt, sie aber umfassen nichts von Seinem Wissen –
außer, was Er will. Sein Thronschemel umfaßt die Himmel und die Erde, und ihre Behütung beschwert Ihn nicht. Er ist der Erhabene
und Allgewaltige. 
(Sure 2: 255) 

Verschiedene Formen von religiösen Praktiken 

Löschungen zählen zu den beliebtesten medizinischen Praktiken in der islamischen Welt Westafrikas. Der Vorgang des Rituals oder das Medium, auf das die Koranverse geschrieben werden, variiert jedoch von Kultur zu Kultur und ändert sich auch im Laufe der Zeit. Früher wurden die Verse im Sudan oft auf die Innenseite von Schüsseln geschrieben. In diese wurde dann Wasser gegossen. Anschließend schwenkte der Heiler die Schüssel solange, bis die Schrift komplett abgewaschen und ins Wasser aufgenommen war. Danach wurde die Mischung getrunken (Kriss 61).
In Damaskus verwendete der Heiler kleine venezianische Goldmünzen, die als mašḫaș bezeichnet werden. Diese Münzen dienen als Amulette, da an ihnen eine Öse befestigt ist, um sie um den Hals zu tragen. Sie werden in eine Schüssel, die mit Wasser gefüllt ist, gelegt. Dieses Wasser kann ebenfalls getrunken werden. Amulette sind die beliebtesten Heilungsmittel, da sie kostbar sind und in Familien weitervererbt werden (Kriss 46).
Eine weitere Art den Koran zu trinken ist, ein Gefäß mit Wasser zu füllen und die Verse anschließend laut über dem Gefäß auszusprechen. Dann wird in das Wasser gespuckt und der Patient trinkt es (Wilkens, ''Drinking the Quran'' 247). 

Kritik an religiöser Medizin 

In der westlichen Medizin wird die Kombination aus Religion und Heilung mit Skepsis betrachtet (Wilkens, Katharina, ''Religious Healing and Evil Spirits'' 4). Einige gehen sogar so weit und nennen die Heiler „witch-doctor“ (zu Deutsch: Hexen-Doktor) (Swantz 7). In wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema werden keine Ergebnisse der Therapien festgehalten, deshalb lässt sich der medizinische Wert nicht untersuchen. Es kann nur von persönlichen Erfahrungen der Patienten berichtet werden (Swantz 7).
Doch nicht nur in der westlichen Welt werden die Praktiken auf diese Weise angesehen. Orthodoxe Muslime, die ihr Wissen über Koranverse aus der Literatur der islamischen Theologie erwarben, interpretieren Koranverse anders als die Berti. Die Interpretationen der Berti sind geprägt von einem Dialekt, der vom Arabischen abweicht. Viele Erwachsene Berti sind außerdem Analphabeten und haben nie Exegese in Koranschulen betrieben. Es bestehen zudem Vorwürfe, dass einige Heiler Verse beabsichtigt manipulieren, um sie den Situationen ihrer Kunden anzupassen (El-Tom 428-429). Nichtsdestotrotz ist die Praktik des Trinkens von Koranversen wichtig für westafrikanische Völker, da sie ihrer Überlieferung nach auf den Propheten Mohammed zurückgeht. Für sie ist außerdem bedeutend, dass durch Schutzverse mögliche böse Kräfte, die sie für Ursachen von Leid halten, abgehalten werden (El-Tom 418). Das macht Praktiken auch neben dem Gebrauch von anderen Mitteln wie Kräuter und Pflanzen zum festen Bestandteil lokaler Medizin.

"Faki, the Koran healer"; Filmcollage auf youtube.com

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=QtFcdvZOCjQ


Verwendete Literatur


El-Tom, Abdullahi Osman. ''Drinking the Koran: The meaning of Koranic Verses in Berti Erasure'' Africa: Journal of the International African Institute. 55.4 (1985): 414-431. Print.

Kriss, Rudolf und Hubert Kriss-Heinrich: Volksglaube im Bereich des Islam, Band II, Amulette, Zauberformeln und Beschwörungen. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1962. Print.

Pelrine, Diane. ''Art and Life Among the Zaramo of Tanzania.'' Art and Life in Africa. Web. 30.07.2016. <https://africa.uima.uiowa.edu/peoples/show/Zaramo>.

Swantz, Lloyd. The Medicine Man among the Zaramo of Dor es Salaam. Esbo: Nordic Africa Institute, 1990. Print.

Wilkens, Katharina. ''Drinking the Quran, Swallowing the Madonna. Embodied Aesthetics of Popular Healing Practices.'' Alternative Voices: A Plurality Approach for Religious Studies. Essays in Honor of Ulrich Berner. Ed. Afe Adogame, Magnus Echtler und Oliver Freiberger. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. 243–247. Print.

Wilkens, Katharina. Holy Water and Evil Spirits. Religious Healing in East Africa. Berlin: LIT Verlag, 2011. Print.




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